Carrara an der Versiliaküste der Toskana ist die Hauptstadt des “Reinen Weiß”
Carrara (keltischer Ausdruck für Steinbruch) ist eine Stadt in der italienischen Provinz Massa-Carrara. Sie liegt in den Apuanischen Alpen und damit in der Region Toskana, östlich von La Spezia. Berühmt ist Carrara durch die besonders weißen Marmorvorkommen in den Steinbrüchen nahe der Stadt sowie für eine Bildhauerakademie.
Marmor aus der Toskana – vielleicht der beste Marmor weltweit
Marmor findet sich an vielen Orten: Spanien, Portugal und Türkei, in China, Griechenland und auf den Philippinen, in Indien, im Iran sowie etlichen weiteren Ländern. Aber der bei weitem größte Exporteur ist Italien und speziell die Toskana mit einer Jahresproduktion von über zwei Millionen Tonnen. Rund zwei Drittel der Gesamtmenge stammen aus den Steinbrüchen in den Apuanischen Alpen an der Toskanischen Riviera. Hier wird auch der berühmteste Marmor gewonnen – der “marmo statuario”, der sich gegenüber den niedrigeren Qualitätsstufen “ordinario” und “venato” durch seine feine Körnung und sein reines Weiß auszeichnet. Es ist ein sehr harter Stein, den die Bildhauer auch deshalb lieben, weil sie nicht fürchten müssen, dass er an der falschen Stelle bricht. Außerdem glänzt der “marmo statuario” wunderbar.
Michelangelo
Der berühmte Renaissance-Künstler Michelangelo, welcher drei Jahre in der Gegend wohnte, begab sich höchstselbst in die Berge, um den Marmorabbau für die Fassade der San Lorenzo-Kirche in Florenz (ein Auftrag des Medici-Papstes Leo X.) zu beaufsichtigen und sich die besten Blöcke für seine Skulpturen auszusuchen. Seitdem wird die allerfeinste Sorte des “marmo statuario” auch “Michelangelo” genannt. Noch heute ist sein Name in Carrara und Umgebung allgegenwärtig: Michelangelo heißen Bars und Restaurants, nach Michelangelo wurden Straßen und Plätze benannt.
Raubbau und Verschwendung
Der “marmo statuario” vom Typ Michelangelo wird langsam knapp, vor allem da mit den heutigen Maschinen ein verheerender Raubbau getrieben wird. Das Material ist außerordentlich begehrt: Auf Baustellen, im Bad und in der Küche wird munter gekachelt und gefliest. Der Marmorverbrauch ist auch ein interessantes Konjunkturbarometer – im Moment steht es in der westlichen Welt auf Hoch. Banken und Geschäfte bestellen Marmorfussböden oder Marmorfassaden und auch viele Privatleute leisten sich Waschtische und Arbeitsplatten aus Marmor. Da muss es natürlich gleich vom Feinsten sein: “marmo statuario”, der dreimal so viel kostet wie einfachere Sorten. Aber die Fundstätten dieser Sort sind erschöpft und bald wird es keinen Michelangelo-Marmor mehr geben, weil er als Baumaterial verschwendet wurde. Eine einfache Rechnung: Jeder Waschtisch aus diesem Marmor kostet eine Statue, jede Badezimmerverkleidung bedeutet ein Kunstwerk weniger.
Abbau seit Jahrtausenden
Die Apuanischen Alpen werden immer kleiner. An manchen Stellen wirkt das Relief wie abgehobelt, denn seit der Antike kratzt, hämmert und sprengt der Mensch an diesem Bergmassiv herum, um das begehrte Baumaterial zu gewinnen, den Weissen Marmor. Bevor sie hier fündig wurden, verwendeten die Römer griechischen Marmor aus Paros und Pentelikon, doch der ist grobkörniger und somit von geringerer Dichte. Obendrein sind die griechischen Steinbrüche von Rom viel weiter entfernt. So mussten die Römer bloß die lokale ligurische Bevölkerung unterwerfen und schon konnten sie mit dem Steinabbau beginnen. Ihre älteste Siedlung, der Ort Luni, geht auf das Jahr 177 vor Christus zurück. Es war in erster Linie eine Sklavensiedlung, denn natürlich wurden für diese anstrengende und gefährliche Arbeit Sklaven eingesetzt. Allerdings waren es Facharbeiter-Sklaven: Das Freilegen, das Herausbrechen (das griechische Wort “marmoros” bedeutet wörtlich “gebrochener Steinblock”) und auch der Abtransport erforderten hoch spezialisierte Fertigkeiten. Die Marmoradern liegen in der Regel dicht unter der Erdoberfläche und es gilt, die von der Witterung erzeugten Risse zu orten und zu nutzen – diese sind natürliche Bruchkanten, ohne die jegliche Kraftanwendung vergeblich wäre. Mit Brechstangen, Rammböcken sowie anderen Werkzeugen und Techniken erweiterten die Steinbrucharbeiter diese vorhandenen Spalten, bis ein Stück Fels so locker war, dass es auf ein Bett aus Geröll gekippt werden konnte. Danach wurde es zersägt. Im Marmormuseum von Carrara ist ein Block aus römischer Zeit ausgestellt, dem die Spuren der antiken Sägen deutlich anzusehen sind – erstaunlich präzise.
Die Schwerkraft als Mitarbeiter
Der Transport geschah einzig und allein mit Hilfe der Schwerkraft. “Lizzatura” heisst die klassische Methode, die eigentlich von den Ägyptern stammt: Auf eingefetteten Holzbohlen, die immer wieder vorne untergelegt wurden, schleifte man die Marmorblöcke talwärts Richtung Meer – ein halsbrecherisches Unterfangen aus ein paar hundert Metern Höhe, denn obwohl viele Männer die Blöcke an Hanfseilen hielten, um das Tempo der Rutschpartie zu zügeln, und obwohl es an den Blöcken kleine Holzbremsen gab, geschah es durchaus öfter, dass einer der Beteiligten durch eine unvorhergesehene Bewegung des Steinkolosses eingeklemmt oder erdrückt wurde. Heute wird die “Lizzatura” als Touristenspektakel noch einmal im Jahr vorgeführt. Inzwischen transportieren LKW zwanzig Tonnen Stein auf einmal, aber immer noch verliert der Mensch manchmal die Beherrschung solcher Fracht. Rund zwei Dutzend tödliche Unfälle werden jedes Jahr in den Bergen von Carrara gezählt.
Mondlandschaft in den Bergen
Steil führt der Weg gleich hinter Massa und Carrara bergauf zu den Abbaugebieten von Torano, Fantiscritti oder Colonnata. Schon von weitem kann man die Steinbrüche hören: Von wegen stille Gipfelwelt – Motorenlärm erfüllt die Luft. Bagger, Förderbänder, Fahrzeuge und die Motoren der Sägevorrichtungen sind den ganzen Tag im Einsatz. Mit Industriediamanten besetzte Stahlseile werden bei hoher Geschwindigkeit durch Bohrlöcher gezogen und schneiden die gewünschten Quader aus dem Gebirge, als wäre es Butter. Auf diese Weise dauert es nur wenige Stunden, einen vier mal zwei mal zwei Meter großen Block herauszutrennen. Das Ergebnis dieses Abbaus kann man schon von weitem sehen: verwüstete Bergflanken, eine gezackte Mondlandschaft ohne Leben. Wie Gletscher leuchten die Steinbrüche im Sonnenlicht und das Weiß des nackten Steins reicht bis zu den Gipfeln hinauf, die wie Zähne in den blauen Himmel der Toskana beißen.
Die Stadt Carrara
Vom Meer kommend, vom Küstenort Marina di Carrara, erreicht man Carrara über eine breite, gerade Ausfallstraße, die gleichmäßig ansteigt. Die Stadt selbst liegt am Hang, so dass jeder Schritt entweder aufwärts oder abwärts führt. Die vielen Marmorfassaden dokumentieren alten Reichtum: der Dom im pisanischen Stil aus dem 11. bis 14. Jahrhundert, die Häuser und Paläste aus der Renaissancezeit. Die Piazza Alberica ist sogar mit Marmor gepflastert. Die Stadt Carrara lebt fast ausschließlich von Marmor, der in den nahe gelegenen Apuanischen Alpen abgebaut wird. Die Arbeiterstadt zeigt im Unterschied zu anderen Ortschaften der Toskana wenig idyllische Winkel, sondern lebt ganz in der Gegenwart. Die Umgebung des Ortes mit bis auf 2000 Meter ansteigenden Berggipfeln und blendend weißen Steinbrüchen ist dagegen landschaftlich durchaus reizvoll. Den Dom im Ortszentrum schmücken schöne romanische Skulpturen – natürlich aus örtlichen Marmor!